Sonntag, Dezember 18, 2011

The Dentist in the Sky


Eine Frage an alle diejenigen, die sich genauso wie ich für die Vergangenheit (und natürlich auch die Gegenwart) von New York City interessieren und die gerne den alten Wolkenkratzern hinterherschauen. Habt Ihr Euch auch nicht auch schon mal gefragt, was sich da oben in der Spitze des Chrysler Buildings befindet? Ein paar Antworten auf diese Frage kann ich nun präsentieren, denn Michal Juroska war so freundlich und hat mir einige sehr interessante Links zugeschickt, die sich genau mit dieser Frage beschäftigen. Dazu habe ich dann selber noch ein paar Recherchen angestellt, um einige vergangene Attraktionen aus der Spitze des Chrysler Buildings wiederaufstehen zu lassen.
Um eine Orientierung zu haben, schauen wir zuerst mal, was die englischsprachige Wikipedia sagt. Vorweg muss ich noch erwähnen, dass das Chrysler Building 77 Stockwerke hat.
 http://en.wikipedia.org/wiki/Chrysler_Building

"Als das Gebäude 1930 eröffnet wurde, bot man eine Aussichtsplattform im 71. Stockwerk an, die allerdings 1945 für die Öffentlichkeit geschlossen wurde. Diese Etage ist heute das höchste genutzte Stockwerk im Chrysler Building, es wird seit 1986 von einer Firma gemietet, die Büroräume verwaltet. Der private "Cloud Club" belegte einst gleich drei Stockwerke von der 66. bis zur 68. Etage, wurde aber in den späten 1970ern geschlossen. Oberhalb des 71. Stockwerks dienen die Stockwerke nur noch als Gerüst, um die Treppe in die Spitze mitzutragen. Mit sehr niedrigen Decken, großer Enge und schrägen Wänden werden die höchsten Etagen nur noch für Radiosender und anderes mechanisches und elektrisches Equipment genutzt. Der Fernsehsender WCBS-TV (Channel 2) strahlte ursprünglich vom Dach des Chrysler Buildings in den 1940ern und frühen 1950ern sein Programm aus, bevor er zum Empire State Building wechselte. Viele Jahre nutzten WPAT-FM und WTFM (heute WKTU) das Chrysler Building als Sendestation, aber sie sind in den 1970ern ebenfalls zum Empire gewechselt. Aktuell befinden sich keine kommerziellen Radiosender mehr auf dem Chrysler Building."

Werfen wir zuerst mal einen Blick in das ehemalige Observatorium im 71. Stock, das schon lange nicht mehr existiert. Die Schließung 1945 stand wohl im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg, als alle Aussichtsplattformen in New York für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich waren. Die des Chrysler Buildings wurde allerdings nach der Schließung auch nie wieder für die Allgemeinheit geöffnet.

Faszinierend finde ich den Hinweis, dass der Expressionismus des deutschen Stummfilms, insbesondere die Kulissen von Robert Wienes "Das Cabinett des Dr. Caligari" aus dem Jahr 1919 bei der Gestaltung der Aussichtsplattform Einfluss gehabt haben können. Und in der Tat kann man das Ergebnis nicht ganz von der Hand weisen. Anfang der 1930er hat der deutsche Expressionismus ja auch noch deutliche Spuren in den klassischen Universal-Horrorfilmen wie Dracula und Frankenstein hinterlassen.
http://flappergirlcreations.wordpress.com/2011/05/18/the-chrysler-buildings-long-lost-observatory/





Und hier ein paar Bilder aus dem Caligari-Film zum Vergleich, es ist schon verblüffend, wie die krummen Kulissen dort ein richtiges Gebäude inspiriert haben könnten:





Auch der Cloud Club, der sich einst in den Etagen 66 bis 68 befand, ist schon lange Geschichte. Einerseits gab es dort eine auf 300 Personen begrenzte Mitgliederzahl, andererseits diente der Club während der Prohibition als Speakeasy, also als Ort, an dem heimlich Alkohol ausgeschenkt wurde. Mehr über das exklusive Lokal kann man hier nachlesen:
http://en.wikipedia.org/wiki/Cloud_Club
http://www.nytimes.com/2005/05/26/garden/26cloud.html?ref=chryslerbuilding


Die begrenzte Mitgliederzahl war sicherlich auch räumlichen Enge dort oben in der Spitze des Wolkenkratzers geschuldet, die auf den nachfolgenden Bildern nicht zu übersehen ist:
http://www.decopix.com/LR_Cloud_Club_Gallery-Final/index.html










Kommen wir jetzt zum ersten Link, den Michal mir geschickt hat. Dabei handelt es sich um einen Artikel aus der New York Times, den William Hamilton geschrieben hat und der in der Ausgabe vom 26.05.2005 veröffentlicht wurde.
http://www.nytimes.com/2005/05/26/garden/26mayor.html?pagewanted=all


Wie die meisten Menschen denke ich an die Spitze, wenn ich an das Chrysler Building denke, an die Krone mit ihrer Spitze. Dieses Teil aus Chrom und Nickel, dass sich in die Wolken bohrt, als wenn es nur Sekunden zuvor 1000 Fuß tiefer aus dem Boden geschossen wäre und es fährt immer noch in die Höhe und versprüht mineralischen Dreck.

Aber da drin gibt es ein kleines Dorf von Mietern, ähnlich den Menschen von Oz. Ich habe ein paar Reisen in die Krone und ihre Spitze unternommen und das fand ich dort: eine persönliche Assistentin, einen selbständigen Architekten und einen Zahnarzt. Einen Implantologen!

"Es ist einsam in der Spitze" sagt Nanette Brannigan, die seit 20 Jahren als persönliche Assistentin der zwei Partner der Cowperwood Company im 71. Stock arbeitet, und ich glaube ihr. Ms. Brannigan ist oft alleine dort oben, weil die Partner, die als Immobilienhändler arbeiten, oft reisen. Bei starkem Wind, knarzt das Holz über ihrer Rezeption, welches die Fenster nach draußen umrahmt.

"Wie ein Schiff", sagt Ms. Brannigan. Verliert sie sich selbst in den endlosen Horizonten oder in Träumerei, während sie hier oben über den Wolken segelt? "Nicht wirklich", sagt sie.

Ed Sussi, einer der Partner der Firma, nahm mich am Dienstag über eine Treppe mit hinauf bis zum absolut höchsten erreichbaren Punkt in der Krone. Im 75. Stockwerk öffnete sich der Raum bis zum Himmel, wie ein Glockenturm. Keine Fenster mehr, nur noch Lücken, um Licht hereinzulassen. Hier wäre überall Taubenscheiße, wenn Tauben bis hier hinauf kommen würden. Mr. Sussi, der in Astoria, Queens, aufwuchs, sagte, dass er die Spitze des Chrysler Buildings immer sah, während er mit der Hochbahn unterwegs war.

"Ich habe mich immer gefragt, was da oben sein mag", sagte er. Nun sitzt er hier, in seinem Büro, das früher einmal die Aussichtsplattform des Gebäudes beherbergte. Mr. Sussi erzählt, dass am 4. Juli die Explosionen des Feuerwerks, die den Himmel erleuchten und die Gesichter der Menschenmenge darunter, von seinem Hochsitz aus bedeutungslos und winzig aussehen. Selbst wenn man nur auf Besuch ist, kommt es einem festungsartig und isolierend vor, so hoch zu sein, die typische Beschwerde eines Königs. Es ist ungemein leise, für Augenblicke bewegungslos, der Geist einer unumkehrbaren Entscheidung. Wie in einer Schachfigur zu sein, anstatt es selbst in der Hand zu haben. Man erwartet Orson Welles in seiner Rolle als Charles Kane, dem die Schatten der Wolken das Gesicht verdunkeln, nicht aber Dr. Charles M. Weiss, einen Zahnarzt, der sich auf Implantatoperationen spezialisiert hat, zwei Stockwerke unterhalb von Mr. Sussi.


Dr. Weiss, 78 Jahre alt, arbeitet in dem Gebäude seit 1962, in der Krone seit 1969. "Ich kann es kaum erwarten, am Morgen zur Arbeit zu kommen", sagt er in seiner Praxis im 69. und 70. Stockwerk, die einst die private Sporthalle von Walter P. Chrysler beherbergte. In Dr. Weiss' persönlichem Büro, das zwei Stockwerke hoch ist, findet man noch den originalen Laufsteg oberhalb des Squashfelds.


"Ich praktiziere jetzt seit über 50 Jahren", erklärt er, "Ich fühle mich wie Dynamit. Ich träume nicht vom Ruhestand." Das Gebäude helfe dabei, wie eine mit einer riesigen Stahlnadel verabreichte Vitaminspritze ins Gehirn.

"Ich bin der Meinung, dass es ein Wunder ist," sagt Dr. Weiss und lässt ein Fenster aufschwingen, dass einen Blick auf den East River offenbart, der mir eher von einer Landung auf dem La Guardia Flughafen bekannt vorkommt. Ja, man kann die Fenster öffnen. "Heute könnte man das nicht mehr machen," ergänzt er, "Vergess es."

Dr. Weiss ist dementsprechend das Ergebnis des Amerikanischen Traums, der in einer Amerikanischen Ikone arbeitet. "Mein Vater kam in dieses Land von Österreich aus und war weder in der Lage zu lesen noch zu schreiben, " erzählt er. "Ich habe noch die originalen Tickets von dem Passagierdampfer, die sie für die gesamte Familie genutzt haben, aber sie veränderten ihre Alter, um billigere Tarife zu bekommen und nur Gott weiss es, mein Vater wusste niemals, wann sein Geburtstag war. Er verdiente niemals 100 Dollar pro Woche in seinem gesamten Leben". Dr. Weiss wuchs am Kings Highway in Brooklyn auf. "Ich wollte schon immer ein Zahnarzt werden, keine Ahnung, warum," sagt er, "Wenn Erwachsene zu Kindern sagen, "Was willst Du denn mal werden?" und die sagen Feuerwehrmann oder Cowboy, dann sagte ich: Zahnarzt. Jeder lachte, aber ich habe meine Meinung nie geändert und ich habe es auch nie bereut."

Als Pionier der Implantologie, bereiste Dr. Weiss die Welt und das Chrysler Building war seine Visitenkarte. "Ich fand heraus, dass dieses Gebäude wirklich eine Ikone von New York City ist.", sagt er. Durch die Lobby zu gehen, die dreieckig ist, mit Eingängen an jeder Ecke, die Fresken von Zirkeln und Doppeldeckern und die Bruderschaft der Arbeiter darüber, das ist so, als ob man das Design als eine Art Kreuzung versteht, wo die Welt abreist und auch ankommt, wo die Mythen des 20. Jahrhunderts geschaffen werden. An Dienstagen erleuchten die Touristen die marmornen Höhlen mit ihren Blitzlichtern, wie Archäologen, die die Pharaonen entdeckt haben.







Dr. Weiss scheint es zu mögen, das Gebäude so zu erforschen, als wenn er zu Hause wäre. "Lass uns runter gehen und nachsehen, ob wir irgendwie in den Cloud Club hineinkommen", sagt er im Service-Treppenhaus, auf dem Weg zum sagenumwobenen Dining Club, dunkel und demontiert seit vielen Jahren. Dr. Weiss kann sich an Mittagessen dort in den 1960ern und 70ern erinnen, als Telefonisten noch hereinkommende Anrufe mit Steckern in Tafeln weiterverbunden haben.


Die Klubräume zwischen dem 67. und 68. Stock, heute nur noch blanke weiße Kisten, brummten wegen Renovierungsarbeiten, die Vorbereitungen für den Einzug eines neuen Mieters. Also kletterten wir wieder in den 70. Stock hinauf, wie zwei Jungen in einem Baum, um Frank Campione zu treffen, einen Architekten, dessen Firma "Create" einen Teil der Etage von Dr. Weiss gemietet hat.


Mr. Campiones Büro ist unter einer chaotischen Geometrie von genieteten Trägern zusammendrängt, die trotz ihrer Verbindung mit einander zu kämpfen scheinen. Es sieht aus wie die rohe Traufe, in der ein buckliger Glöckner vielleicht seinen Zuhause finden könnte, eine grobe Version eines Himmels. "Fühlst Du nicht irgendwie auch so etwas wie Liebe?" fragt Dr. Weiss Mr. Campione in Bezug auf das Gebäude.

Mr. Campione, dessen Mitarbeiter ein wenig angestrengter in ihre weißen Apple-Computer starren antwortet: "Ja. Wie mit Deiner Frau. Eine Liebes- und Haßbeziehung. Es ist 75 Jahre alt - und Du bekommst das Gute zusammen mit dem Schlechten." Ich erinnere mich, dass Mr. Sussi erzählte, er hätte 30 neue Decken in 20 Jahren erhalten, ein Hinweis darauf, dass das Dach trotz einer erst kürzlich durchgeführten Abdichtungsmaßnahme schon wieder undicht ist. Und sei Dir sicher, wenn Du in die Krone hinaufkommst, gibt Dir das Chrysler den Eindruck, dass es das größte alte Haus ist, in dem Du jemals gewesen bist.

Aber Mr. Campione fügt hinzu: "Es funktioniert für uns als Marketing-Instrument. Wir haben eine Menge Aufträge im Einzelhandel und bei themenorientierten Projekten und das hier ist wirklich eines der ersten Gebäude mit themenorientierter Architektur. Ich befürchte, wir können jetzt nicht mehr wechseln."

Nachträglich ist noch zu erwähnen, dass der Mietvertrag der "Cowperwood Company" im Januar auslief. Mr. Sussi, dessen Verhandlungen über einen neuen Vertrag mit Tishman Speyer, den Hausbesitzern, scheiterte, wird im nächsten Monat in das Seagram Building umziehen. Dr. Weiss' Mietvertrag (und durch Erweiterung auch Mr. Campiones) läuft im Dezember 2006 aus. "Ich kann mir nicht vorstellen, nicht  mehr im Chrysler Building zu sein, es wird zu einem Teil von Dir", sagt Dr. Weiss.

In seinem Büro stehend mit dem Panorama von New York direkt hinter seiner Wange, erinnert er sich: "Vor Jahren hatte ich einmal einen Patient, der Pilot war. Er konnte nicht bis zu den Fenstern vortreten." Dr. Weiss lachte ungläubig. "Ich sagte: "Wíe fliegen Sie denn?" "Indem man niemals nach unten sieht. Und nur selten zurück".

Hier haben wir noch vier weitere stimmungsvolle Bilder, die ein anderer Besucher im Inneren des Chrysler Buildings aufgenommen hat, als er beim Zahnarzt in der Spitze zu Besuch war.
http://veblenesquegorge.tumblr.com/post/6397726705/i-went-to-the-dentist-in-the-spire-of-the-chrysler





Jetzt bleibt eigentlich nur noch die Frage, was aus der Zahnarztpraxis dort oben in der Spitze des Chrysler Buildings geworden ist. Denn der wiedergegebene Artikel aus der New York Times ist ja mittlerweile auch schon wieder 6 Jahre alt.

Michal Juroska ist auch dieser Frage nachgegangen und fündig geworden. Dr. Weiss scheint nicht mehr im Chrysler Building zu praktizieren. Er müsste jetzt auch schon 84 Jahre alt sein, vielleicht ist es da auch langsam an der Zeit, den Bohrer beiseite zu legen.

Eine Zahnarztpraxis gibt es im Chrysler Building aber immer noch, mit dem originellen Namen "Dentist in the Sky"
http://www.dentistinthesky.com/
http://www.212midtowndentist.com/index.html

Heute praktiziert dort eine Zahnärztin, nämlich diese hier:


Hier kann man das gesamte Video vom Fernsehauftritt der Zahnärztin aufrufen:
http://abcnews.go.com/Health/video/good-dental-hygiene-habits-gums-teeth-tooth-care-brush-floss-mouth-11439205

Und zum Schluss wollen wir noch einen kurzen Blick in die Praxis der Zahnärztin werfen, die quasi im Himmel arbeitet:







Weitere Quellen / more sources:
Google Bildersuche - Google Picture Search

Nachtrag (23.12.2011):
Hier gibt es noch eine Fortsetzung zu diesem Beitrag:
http://nygeschichte.blogspot.com/2011/12/in-der-spitze-des-chrysler-buildings.html

2 Kommentare:

  1. Toller Beitrag, ich hatte schon früher von der Aussichtsplattform und dem Cloud Club gelesen, aber wusste nicht, dass es noch so viele Fotos davon gibt. Leider sind diese Etagen heute nicht mehr zugänglich (es sei denn man hat Zahnschmerzen), womit ich auch schon bei der Frage bin, die mich schon seit längerem beschäftigt:

    Scheinbar hat es vor vielen Jahrzehnten eine ganze Reihe öffentlich zugänglicher Aussichtsplattformen in New York gegeben, von denen nur noch das ESB und das Rockefeller Center geblieben sind.
    Auf dieser Seite (http://classic.forgotten-ny.com/STREET%20SCENES/willie/willie.html)
    ist von ganzen 11 public observation decks die Rede.

    Leider findet man dazu nicht besonders viele weitere Informationen, mich würde interessieren, wo genau sich die Aussichtsplattform bei den dort aufgelisteten Gebäuden befanden, wann und warum sie geschlossen wurden und natürlich ob vielleicht sogar Fotos erhalten sind?

    In diesem Forenthread, der auch auf den forgotten-ny.com-Artikel zitiert, hab ich noch einige weitere Informationen gefunden, unter anderem, dass auch das Flatiron Building eine Aussichtsplattform gehabt haben soll, aber auch die dortige Liste lässt viele Fragen offen:
    http://www.skyscrapercity.com/showthread.php?t=1157883

    AntwortenLöschen
  2. hallo ub,

    der Beitrag hat auch richtig Spass gemacht, obwohl ich mal wieder stundenlang dafür übersetzen musste. In wenigen Minuten fange ich mit dem angekündigten Nachschlag an, dann kommen weitere Innenansichten. Das mit den Aussichtsplattformen ist eine interessante Frage, der müsste man vielleicht mal wirklich nachgehen. Also, mir fallen neben den von Dir genannten noch das Woolworth Building ein, da war Dirk Stechweh auch mal drauf, um zu fotografieren, dann das Singer Building (die ist bekanntermaßen nicht mehr da) und das AIG Building, dass Du als quasi-Markenzeichen auf jeder Blogseite oben links siehst. Vielleicht nehme ich den Faden in der Weihnachtswoche nochmal auf und gebe den in unsere Expertenrunde. Schöne Weihnachtstage - der Schaedel.

    AntwortenLöschen