Donnerstag, Juli 24, 2008

Marie Lemkes Besuch in New York 1902

Kapitel 110
Ich habe ja schon ein paar Mal erwähnt, dass ich mich gerne im Internet treiben lasse und mal schaue, wohin ich dann gelange. Gestern habe ich eine Bildersuche bei Google mit den Suchbegriffen "New York 1872" durchgeführt und bin dabei auf ein altes Foto vom Hotel Waldorf Astoria aus dem Jahr 1903 gestoßen, das ich interessant fand. Allerdings ging es auf der dazugehörigen Seite um ein völlig anderes Thema, das aber dennoch zum Blog passt und die Themenvielfalt bereichert.

Wer dem ersten Link am Ende des Kapitels folgt, betritt eine längst vergangene Ära, die gut 100 Jahre in der Vergangenheit liegt. Im Mittelpunkt der dort eingestellten Geschichte steht die 1880 in Königsberg geborene Marie Auguste Adelgitha Lemke, später Dr. phil. Marie Bock. Familiengeschichtlich interessierte Nachfahren haben eine Menge an Material über ihre Vorfahren gesammelt und ins Netz gestellt, darunter auch die unveröffentlichten Lebenserinnerungen von Marie Bock. Dabei entstand eine sorgfältig zusammengestellte Internetseite, die auch für Nichtverwandte sehr interessant ist und einen Besuch lohnt.

Marie wuchs zusammen mit sechs Geschwistern für die damaligen Verhältnisse sicherlich verhältnismäßig wohlbehütet in Ostpreußen auf. Das kann man unter anderem an den zahlreichen Reisen erkennen, von denen sie schon aus ihrer Kindheit zu berichten weiss. Allerdings macht es Spass, sich von ihr auf der Reise in die Vergangenheit mitnehmen zu lassen, denn sie hat eine Menge zu erzählen.

(Marie im Kreis ihrer Geschwister, sie selbst vorne in der Mitte)
Dank zahlreicher Bekannter und Verwandter an allen möglichen Orten ist Marie auf jeden Fall eine Menge im Deutschen Reich zur Kaiserzeit herumgekommen. Dieses finde ich schon beachtlich, zumal Ostpreußen und Königsberg ja nicht unbedingt im Zentrum den damaligen Deutschen Reiches lag. Eigentlich waren nur noch die Deutschen Kolonien weiter vom Mittelpunkt des Landes entfernt. Reisen führten sie bereits 1901 ins Ausland nach Brüssel und Paris. Weihnachten 1901 wurde dann eine Reise nach Amerika Wirklichkeit, nachdem sie der jüngste Bruder des Vaters, der in New York eine Buchhandlung betrieb, eingeladen hatte.

("Kaiser Wilhelm der Große")

Am 03. Januar 1902 begann die Reise, zunächst von Ostpreußen über Berlin nach Bremen. In Bremerhaven bestieg sie dann den Ozeandampfer "Kaiser Wilhelm der Große", auf dem die Überfahrt nach New York stattfand. Die Schilderung der Überfahrt ist sehr eindrucksvoll, auch der ständige Kampf gegen die Seekrankheit und schlechtes Wetter geben anschaulich wieder, wie es den damaligen Passagieren auf dem Weg nach Übersee ergangen ist.

Diese Aufnahme der Skyline von Manhattan stammt aus dem Jahr 1902 und dürfte in etwa dem Eindruck entsprechen, den Marie bei ihrer Ankunft erlebt hat. Viele der spektakulären Wolkenkratzer waren 1902 noch gar nicht vorhanden, aber trotzdem bot Manhattan schon eine umfangreiche Sammlung an außergewöhnlichen Gebäuden, die die Reisenden bei ihrer Einfahrt in die New Yorker Hafenbucht staunen ließen. 1902 wurde das "Flatiron Building" am Madison Square fertiggestellt und es begann der Bau des "Whitehall Buildings" am Battery Park. Die Ankunft in New York schildert sie so:
"Am 14. Januar 12 ½ Einfahrt in den Hafen von New York. Sonnenschein, blauer Himmel, Frost, liebliche Ufer, Himmelskratzer, gewaltig groß, in den Himmel ragend, glückverheißend die Freiheitsstatue. Wäre ich ihr doch treu geblieben! Hatten schon die Ozeanwellen viele Schlacken und Spinnweben von Herz und Hirn weggespült, jetzt fielen alle Ketten Deutschlands von mir ab, ich fühlte mich frei und glücklich. Vom Hafen her heißen zahllos wehende Taschentücher uns in Amerika willkommen, die Musik spielt, wir sind am Ziel. Warmer Abschied von meinen Reisegefährten. Liebevoll hatten sie mir die Brücke geschlagen vom alten Kontinent zum neuen. Am Hafen begrüßt mich Onkel Ernst. Ein Schauer überläuft mich heute noch, wenn ich an den Augenblick denke, wo ich den Boden Amerikas betrat. Ein neuer Mensch im neuen Land. Es war eine Sternstunde in meinem Leben. Heute weiß ich es."

Tatsächlich hielt sie sich während ihres Besuchs in den Vereinigten Staaten vor allem im Städtchen Orange in New Jersey auf, dort wo Thomas Alva Edison seine Laboratorien betrieb und 10 Jahre zuvor die ersten Versuche unternommen hatte, um bewegte Bilder auf Film zu bannen (siehe auch Kapitel 71).

Am 29. Januar 1902 unternimmt Marie mit ihren Gastgebern einen Ausflug zur Stadt New York. Der Hudson River wird mit einer Fähre vermutlich von Hoboken aus überquert, denn der Holland und der Lincoln Tunnel liegen noch 20-30 Jahre in der Zukunft und auch der Eisenbahntunnel von Manhattan unter dem Hudson River hindurch nach Hoboken wird erst 1908 fertiggestellt.

"25.I 1902: „We must haste if we´ll still catch the train 440." Schnell packen wir unsere Kleider in den dazu bestimmten Koffer “dress suit case” und erreichen den geplanten Zug, der uns in ½ Std nach New York bringt. Die Fahrt bietet nichts Interessantes. Eine lange Zeit nur öde Strecken, dann überschwemmte Wiesen, die „salt meadows“, sie liegen meist brach. Das unschöne Newark, eine Arbeiter-Vorstadt von ungefähr 200 000 Einwohnern, hat neben New York keine Bedeutung. Kleine boys bieten Zeitungen, Journale, Schokolade an, legen auf jede Bank ein Stück „only ten pence“ und nehmen auf dem Rückweg das Nichtverkaufte wieder an sich. Der Zug hält. Wir eilen wieder, um das ferryboat zu erreichen, denn der Hudson River trennt uns noch von New York. Das ferry boat befördert täglich durchschnittlich 1 Million Menschen und nimmt zu gleicher Zeit 10-12 Wagen mit hinüber. Es ist inzwischen ½ 6 geworden. Die Sonne ist eben untergegangen. Der noch rot glühende Himmel gießt ein rosiges Licht über die eisfreien Wasserstellen und die durchsichtigen Eisschollen. Ein Dutzend andere ferries, die den Verkehr zwischen den anderen Vorstädten und New York vermitteln, durchkreuzen den breiten Fluß und tragen von innen hell erleuchtet ihr Licht durch die winterliche Dämmerung. Jenseits des Wassers grüßt mich die Weltstadt, die von allen Seiten eingeengt sich zum Himmel recken muß. Ganz New York scheint illuminiert. Aus tausenden von Fenstern strömt ein solch funkelndes Licht wie aus den Brillantenläden unter den Boulevards in Brüssel bei Abendbeleuchtung, und diese Lichtmasse spiegelt sich in Eis und Wasser wieder. Der Mond hängt in greifbarer Nähe ganz rosig, ein Lampion, am stahlblauen Himmel, die Venus bestrahlt milde das Bild und das Geräusch der Fähre beim Durchbrechen der Eisschollen einem fernen Donner gleich ertötet und dämpft allen kleinen Lärm der Menschen."

Nach einem fast fünfmonatigen Aufenthalt endet der Besuch in Amerika Ende Mai 1902:

"Am 31. Mai schifften wir uns ein. Viele Freunde waren mit Blumen und Geschenken am Kai. Die Musik spielte. Lange ließ ich „the star-spangled Banner“ wehen. Immer kleiner wurden die geliebten Menschen, immer kleiner die riesigen Wolkenkratzer, immer kleiner, immer winziger die gewaltige Freiheitsstatue, bis sie gänzlich meinen Augen entschwand. New York hatte ich verlassen, aber Paris und London leuchteten schon an meinem geistigen Horizont. Die Tore der Welt standen mir offen."

Damit endet die Amerikareise von Marie Lemke, nicht aber ihre Lebensgeschichte. Nach ihrer Rückkehr ins Deutsche Reich begann sie unüblicherweise Gymnasial-Kurse zu besuchen, Latein, Mathematik, Griechisch und andere Sprachen zu erlernen und machte ihr Abitur. Im Anschluss studierte sie Philosophie und alte Sprachen - ein ungewöhnlicher Lebensweg für eine junge Frau zur damaligen Zeit.

1905 heiratete sie Wilhelm Bock und folgte ihm nach Tilsit, wo er Oberlehrer am Gymnasium wurde. In den Folgejahren brachte Marie 5 Kinder zur Welt, schloss ihr Studium ab und promovierte erfolgreich. Nach dem 1. Weltkrieg engagierte sich das Ehepaar während der Weimarer Republik in der "Deutschen Volkspartei". Marie kandidierte sogar für den Reichstag zur Reichstagswahl am 14.9.1930, für die "Deutsche Volkspartei" Liste 5.

Marie Bock starb 10 Tage nach ihrem Mann, am 18. August 1954 in Einbeck.

(Marie und Wilhelm Bock)

Links:

http://www.schaper.org/ahnen/lemcke/bock/erinnerungen.htm

http://www.schaper.org/ahnen/lemcke/bock/index.htm

http://www.aratoga.de/100/index.html

http://www.maggieblanck.com/Hoboken/TrainStation.html

http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:New_York_City_Panorama_c1902_LOC_6a36538u.jpg

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