Seit Januar 2012 sind wir schon zahlreiche Male in die Tiefen der Geschichte von Südmanhattan abgetaucht. Mit beteiligt durch Material und Themenvorschläge sind auch die Leser Arnie, Michal Juroska, Andy Frieder und JPJ. Hier kannst Du die bisherigen offiziellen und inoffiziellen Folgen der Reihe abrufen.
http://nygeschichterucksack.blogspot.com/2012/02/lower-manhattan-journey-through-time.html1. Cincinnati, ca. 1900
Wie war das damals, wenn man mit Zügen über das amerikanische Festland nach New York fuhr und es schließlich nicht mehr weiterging, weil ein breiter Strom namens Hudson River (oder North River) die Weiterfahrt verhinderte. Tunnel unter dem Flußbett gab es lange Zeit nicht, folglich wurde das Hindernis über das Wasser hinweg überbrückt: mit Fähren. Wie zum Beispiel der "Cincinnati", die für die Pennsylvania Railroad Company Passagiere über das Wasser beförderte.
Eigentlich war ich ja auf das Foto oben bei Knickerbocker Village gestoßen, habe dann aber festgestellt, dass der Weg noch weiterführt bis nach Shorpy, wo glücklicherweise einmal mehr eine hochauflösende Aufnahme zur Verfügung steht.
http://www.shorpy.com/node/7394?size=_original#caption
Die Zahl der Rettungsboote war in der Vor-Titanic-Zeit noch sichtbar knauserig bemessen, wenn diese nicht einmal übermäßig befüllte Fähre havariert wäre, hätte es wohl ganz schön Balgerei um die wenigen Plätze für Nichtschwimmer gegeben:
Auf dem Fahrzeugdeck unten sieht man alt und neu nebeneinander. Das Teil rechts müsste ein Pferdefuhrwerk sein, das steht für das gerade geendete 19. Jahrhundert, links daneben ein Automobil, eines der wesentlichen technischen Entwicklungen für das gerade begonnene 20. Jahrhundert.
Werfen wir jetzt noch einen Blick auf die Skyline, um nachzusehen, ob die Datumsangabe "ca. 1900" in etwa bestätigt werden kann. Hilfreich ist hier sicherlich Michal Juroskas Identifizierungsarbeit an der Manhattan Skyline von 1902. Ich fange mal links oben an:
Diesen Abschnitt sieht man auch auf dem nachfolgenden Bildausschnitt der 1902er-Skyline, wobei an der Position des Gebäudes 4 auf der Fährenaufnahme noch weniger Gebäude standen.
http://nygeschichte.blogspot.de/2012/04/lower-manhattan-journey-through-time_14.html
Weitestgehend von den Aufbauten der Fähre verdeckt ist der Teil auf Höhe des City Hall Parks, aber der Dom des World Buildings und die Doppeltürme des damals höchsten Gebäudes in Manhattan, des Park Row Buildings von 1899, sind dennoch zu erkennen.
Schön zu vergleichen ist dagegen der nächste Abschnitt, der sich ungefähr vom Washington Life Building (20) bis zum Manhattan Life Insurance Building (30) erstreckt. Der Bauzustand des MLIB in seiner Urversion mit der noch nicht gestreckten Kuppel auf dem Dach verrät, dass die Aufnahme zumindest vor 1903 entstanden ist.
Faszinierend finde ich das Gebäude mit der hellen Rückfront links neben dem Washington Life Building, bei Michal zwischen den Gebäuden Nummer 19 und 20. Ich frage mich, ob man hier auf die Rückseite des alten Singer Buildings blickt, das damals "nur" sechsstöckig war und deshalb noch nicht so sehr aus der Skyline herausragte wie später nach dem Neubau.
Apropos 19, auf dem Fährenbild ist die Nummer 19, das Broadway-Maiden Lane Building noch nicht errichtet. Laut Emporis sind die Bauarbeiten 1902 aufgenommen worden, also könnte die Datumsangabe "ca. 1900" beim Fährenbild tatsächlich passen.
http://www.emporis.com/building/broadwaymaidenlanebuilding-newyorkcity-ny-usa
Für die Datumsangabe spricht auch, dass man das Hanover National Bank Building (25 bei Michal) auf dem Fährenbild ebenfalls noch nicht sieht, und das ist zwischen 1901 und 1903 gebaut worden.
http://www.nyc-architecture.com/GON/GON014.htmWerfen wir noch einen Blick auf den letzten Abschnitt, der fast den gesamten Süden von Manhattan und vom Broadway zeigt.
2. Western Union Time Ball (1877)
Die Idee zu diesem Beitrag habe ich von Arnie Merriam erhalten, der mir den Link geschickt hat, dafür ein großes Dankeschön. Dieser Link bringt nun endlich etwas Licht in eine Geschichte, die sicherlich jeder, der sich mal mit dem Western Union Building (1875-1890) befasst hat, schon irgendwann einmal gelesen hat.
Das 1875 errichtete, zehnstöckige Gebäude war zu seiner Zeit das höchste Gebäude in New York und in den Vereinigten Staaten (Gebäude, nicht Bauwerk). Ab September 1877 verwendete man die Plattform auf der Spitze des Türmchens an der Broadway-Front für ein Schauspiel, das täglich zur Mittagszeit viele tausend Augen aus der Umgebung auf das meilenweit sichtbare, weil besonders hohe Gebäude zog: der Ball Drop.
Das Gebäude an der Adresse 195 Broadway stand mittels Telegraph mit dem Nationalen Observatorium in Washington in Verbindung und von dort aus kam jeden Tag aufs Neue die Bestätigung, wann genau Mittag war. Dann wurde ein weithin sichtbarer "Ball" an einem Mast herabgelassen, der den Zuschauern in der Umgebung ermöglichte, die eigenen Uhren möglichst genau auf 12:00 Uhr Mittag einzustellen. In heutigen Zeiten mit Funkweckern und Atomuhren sicherlich ein steinzeitlich anmutendes Verfahren, vor 135 Jahren aber hochmodern und hochpräzise.
Von weitem sah es wohl so aus, als ob es sich bei dem Teil, was dort am Mast auf- und abbewegt wurde, um einen massiven Ball handeln würde. Tatsächlich bestand dieser aber aus einer Reihe von kugelförmig angeordneten Kupferblechen, um den Windwiderstand an diesem exponierten und mitunter auch sehr stürmischen Ort möglichst gering zu halten.
Komplett hochgezogen befand sich der Ball auf einer Höhe von 315 Fuß, was 96 Metern entspricht. Während des "Drops" legte der Ball einen Höhenunterschied von 23 Fuß zurück, also etwa 7 Metern. Auf dem Bildausschnitt sieht man dem Ball nach dem Drop:
Das tägliche Ritual begann jeweils um fünf vor zwölf, als der diensthabende Offizier den Ball mit einer Handkurbel in seiner Ausgangsposition oben am Mast hochkurbelte. Zwei Minuten vor Mittag wurde ein "Ready"-Signal nach Washington telegrafiert, das dem dortigen Mitarbeiter zeigte, dass in New York alles für den Ball Drop bereit war.
War exakt 12:00 Uhr Mittag erreicht, schloss der Mitarbeiter in Washington einen Stromkreis, der wiederum einen Elektromagneten in New York aktivierte. Dieser löste die Blockade, die den "Ball" oben am Masten hielt, und der Ball stürzte - weithin sichtbar - sieben Meter am Mast hinunter, bevor er von sechs starken Puffern abgefangen wurde.
War der Ball unten angekommen, wurde automatisch ein Signal zurück nach Washington geschickt, wo man dann auch wusste, dass der Ball seinen Drop erfolgreich hinter sich gebracht hatte. An Tagen, an denen aus irgendwelchen Gründen kein Signal aus Washington empfangen werden konnte, zog man eine rote Fahne hoch und ließ sie zwischen 12:01 und 12:10 wehen.
Ein besonderer Leckerbissen ist noch diese Aufnahme, die in den 1880ern vom Dach des Western Union Buildings aus entstanden ist und den Blick auf ein lange vergangenes Südmanhattan zulässt, so wie ihn der diensthabende Offizier im Western Union Building erlebt hat, wenn er vor den Augen zigtausender New Yorker, New Jerseyer und Brooklyner das kleine tägliche Spektakel des "Ball Drops" durchführte. Im Hintergrund der Hudson River und New Jersey, im Vordergrund jenes Viertel, das viele Jahre später für das World Trade Center weichen musste und noch später noch viel viel mehr Augen aus der ganzen Welt auf sich zog als der kleine Ball Drop auf dem Turm des Western Union Buildings.
Quelle / Sources:
http://www.telegraph-history.org/george-m-phelps/ball.htm
http://www.telegraph-history.org/george-m-phelps/index.html
Eine weitere Aufnahme vom Dach des WUB habe ich in der Sammlung des MCNY entdeckt, die nach Norden statt nach Westen schaut.
Post Office from Western Union Telegraph Building ca 1880, from the collection of the museum of the city of New York
Ganz rechts im Hintergrund die damaligen Niederlassung der New York Times, daneben das andere spektakuläre neue New Yorker Hochhaus, das Tribune Building. In der Bildmitte das City Hall Post Office und links im Vordergrund die St. Paul's Chapel und dahinter das Astor House. Rechts im Vordergrund die Niederlassung des New York Herald auf dem Eckgrundstück, wo 1865 Barnum's American Museum abgebrannt war.
Western Union Building, Lower Broadway, ca 1904, from the collection of the museum of the city of New York
Hier ist das Western Union Building nur Nebendarsteller am linken Rand, in seiner weniger spektakulären zweiten Version nach dem großen Brand 1890 und dem Wiederaufbau. Im Mittelpunkt steht hier das Mail und Express Building, hier besonders schön aufgebretzelt für ein mir unbekanntes Ereignis, möglicherweise ein Parteitag der Demokraten?
Es folgen noch zwei Abbildungen vom Neubau des Western Union Buildings, der an der Adresse 195 Broadway zu Beginn des ersten Weltkriegs entstand, nachdem man die renovierte Ruine des alten Western Union Buildings nunmehr endgültig abgerissen hatte.
195 Broadway at the corner of dey street. western union building, 1914, from the collection of the museum of the city of New York
195 Broadway at the corner of dey street. western union building, ca 1915, from the collection of the museum of the city of New York
Damit endet die 19. Folge der Lower Manhattan Saga. Weitere Folgen und ähnliche Beiträge kannst Du hier abrufen:
http://nygeschichterucksack.blogspot.de/2012/02/lower-manhattan-journey-through-time.html
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